„Vermesst Euch!“ in brand eins

Written by on 23. April 2014 in Allgemein with 0 Comments

Was bringt Menschen dazu, Tag für Tag ihre Schritte zu zählen? Ihre Schlafphasen und Hormon-Level zu vermessen – oder in Tabellen einzutragen, wie konzentriert sie sind?Vier Geschichten über die moderne Selbstbeobachtung.

I. Prolog

In vielen Lebensbereichen sind Zahlen eine Selbstverständlichkeit: der Kontostand, die Miete, die Leistung des zum Verkauf stehenden Autos. All das soll in exakten und vergleichbaren Werten ausgedrückt werden, statt auf schwammigen Begriffen oder einem diffusen Gefühl basieren. Anders im Privaten: Hier sind Zahlen tabu. Wer statt eines Tagebuchs eine tägliche Excel-Liste seines Lebens führt, wird von seiner Umwelt im besten Fall für kauzig gehalten, im schlimmsten für verrückt.

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In den vergangenen Jahren hat sich das bei manchen Menschen geändert: 2007 prägten die beiden amerikanischen Technikjournalisten Kevin Kelly und Gary Wolf vom »Wired«-Magazin den Begriff „Quantified Self“ und gaben mit dem Untertitel ihrer Website gleich das Programm vor: Selbsterkenntnis durch Zahlen. Bei Profisportlern und in Kliniken ist die präzise Erfassung von Körperwerten schon lange üblich – doch was wäre, wenn Menschen auch im Alltag anfingen, sich selbst zu beobachten und zu quantifizieren? Was wäre die Erkenntnis? „Es ist eine medizinische Studie mit einem einzigen, aber sehr wichtigen Teilnehmer“, sagt Gary Wolf. „Ihnen selbst.“

Er und sein Kollege Kelly nennen vier Gründe für die Quantified-Self-Bewegung: Zum einen sind die Sensoren, die eine automatische Messung ermöglichen, viel kleiner, leichter und billiger geworden. Zum anderen tragen immer mehr Menschen ein Smartphone bei sich. Dieses enthält bereits sehr viele solcher Sensoren – von Bewegungs- und Beschleunigungsmessern über GPS und Höhenmesser bis zu Fotozellen und Mikrofonen. Der dritte Faktor seien die sozialen Netze, die es im Laufe eines Jahrzehnts immer normaler werden ließen, Privates mit anderen zu teilen. Die Entwicklung der Cloud schließlich sorge dafür, dass sich Daten auch aus verschiedenen Quellen bequem sammeln, zusammenführen, optisch aufbereiten und abrufen lassen – beispielsweise in Form von Apps, die einen ganz normalen Tagesablauf auf dem Smartphone-Screen in Form von bunten Kurven und Balkendiagrammen darstellen.

Was als eine Art Selbsthilfegruppe des Silicon Valley begann, ist inzwischen ein globales Phänomen – und ein großes Geschäft. In vielen Apple Stores gibt es ein ganzes Regal mit Armbändern, Clips und anderen Kleingeräten, mit denen man sich selbst vermessen kann. Apple hat bereits Patente für Ohrhörer eingereicht, die automatisch Puls, Körpertemperatur und den Sauerstoffgehalt im Blut messen – sei es beim Musikhören oder Telefonieren. Die kalifornische Firma Jawbone, deren Tracking-Armband UP tagsüber Aktivität und nachts den Schlaf überwacht, wurde kürzlich auf mehr als drei Milliarden Dollar bewertet.

Irgendwann wird der Blick auf die Schlafdaten der vergangenen Nacht oder die eigenen Blutwerte so normal sein wie der morgendliche Schritt auf die Waage, da sind sich die Selftracking-Enthusiasten sicher. Doch abgesehen von dieser Zuversicht, sind die Unterschiede zwischen ihnen oft größer als ihre Gemeinsamkeit. Was sie vermessen und beobachten, ist sehr individuell – ebenso wie ihre Motivation und ihre Ziele.

 

II. Der Selbstmotivator

Holger Dieterichs Einstieg in die Szene dürfte typisch sein. Der 36-jährige Technik-Freak sagt: „Ich hatte von diesen Gadgets gehört, mit denen man seinen Alltag vermessen kann, und dachte mir: cool, was Neues zum Rumspielen.“ Dieterich erzählt das auf der Bühne, bei einem Treffen der Berliner Quantified-Self-Gruppe. Die Gruppe ist ein loser Zusammenschluss von Männern, die sich etwa alle zwei Monate treffen, um einander in sogenannten Show-and-Tell-Präsentationen zu zeigen, was sie messen, wie sie dabei vorgehen und was sie daraus lernen. Dieterich zeigt sein Jawbone-Armband herum sowie einen Tracker, die er beide benutzte, um seine tägliche Aktivität zu messen. Viele im Publikum tragen ein ähnliches Gerät am Handgelenk oder am Hosenbund. Dieterich erzählt, er habe relativ schnell erkannt, dass er nur selten die 10 000 Schritte erreichte, die als Tagespensum für einen gesunden Lebensstil empfohlen werden. Er begann, öfter zu Fuß zu gehen und irgendwann zu joggen. „Ich habe mein ganzes Leben noch keinen Sport getrieben“, sagt der Internetberater aus Berlin-Kreuzberg, „aber plötzlich rannte ich über das Tempelhofer Feld. Zuerst, weil ich die Resultate in meiner Statistik sehen konnte, irgendwann dann, weil ich merkte, dass es mir Spaß macht.“

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About the Author

About the Author: Christoph Koch ist Journalist (NEON, brand eins, GQ, SZ- und ZEIT-Magazin, Tagesspiegel, etc.), Autor ("Ich bin dann mal offline" & "sternhagelglücklich" & "Chromosom XY ungelöst") und Vortragsredner. Gerade ist sein eBook "Die Vermessung meiner Welt - Bekenntnisse eines Self-Trackers" zum Thema Quantified Self erschienen .

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